opernnetz.de vom 29. Februar 2012

 

 

Reitmeiers Geniestreich

Nur die Kuppel scheint äußerlich unversehrt den Himmelssturz überstanden zu haben, ohne Unterbau aufgeschlagen in der Wirklichkeit. Das Christentum, verstärkt in seiner katholischen Variante, steht vor seinen Trümmern in der Ideenwelt. An den Wänden zeigt sich die hässliche Wahrheit: Der blätternde Lack ist ab. Am vorderen Bühnenrand ist Stacheldraht ausgerollt, hinter dem die Männerwelt des Klerus weniger ausgegrenzt als die letzten Bastionen verteidigend erscheint, Verstörte Versprengte, mit schulterkreuzendem Patronengürtel. Oben ist ein leerer, kalter Himmel, die Dinge drehen sich und wir sind in der Gegenwelt Klingsors, der Protagonist schlechthin des Säkularismus und traditionsvergessenden Neuheidentums. Seine Sphäre, die der Angestelltenkultur, ist ebenso beschädigt. Ein aufgerissener Himmel, die Ränder der verletzten alten Ordnung weisen geometrische Formen wie die eines Zahnrads auf, als Schiboleth des industriellen, nachchristlichen Zeitalters. 

Johannes Reitmeier produziert am Pfalztheater Kaiserslautern eine genialische Parsifal-Inszenierung, die den intellektuellen und künstlerischen Vergleich mit der umjubelten Stefan Herheim-Inszenierung in  Bayreuth nicht zu scheuen braucht. Interpretiert der Norweger auf der Grundlage des Bühnenweihfestspiels die deutsche schuldgeladene  Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, verwoben in die Wagnersche Rezeptions-, Personen- und Familiengeschichte, spinnt Reitmeier den abgebrochenen Dialog zwischen Wagner und Nietzsche weiter, interpretiert den zentralen Mitleidsbegriff des Bayreuther genius loci eben nicht wie so oft buddhistisch, sondern empathisch, Leben als Schuld, das tertium comparationis zwischen Amfortas und Parsifal. Der freie Mensch, Nietzsches Übermensch, er empfindet nicht wie dessen Ausrufer Mitleid als Verzärtelung, Verpöbelung und Verchristlichung, keine Umkehrung aller Werte, die den starken Einzelnen domestiziert und schwächt. Reitmeier fragt nach verlorenem Glanz  der traurigen Ritter vom Kreuz. Sein Orden ist der überalterte Klerus, dessen Versuchung adoleszent und männlich. Nur von außen kann die Rettung kommen: Parsifal, dem eine Kirchenbank noch fremdelndes Staunen entlocken kann, dem man die Naivität und Unbefangenheit  gegenüber einer unbekannten Kirchlichkeit abspürt. Es treten Bischöfe und Päpste auf, am Rand ist ein beschädigtes Taufbecken, dem erst der reine Tor seine zentrale Bedeutung zurückgeben wird. Auf der anderen Seite, die zunächst nicht einmal einen Blick auf die dem Untergang geweihte Kirche zulässt, steht auch Erlösungssehnsucht. Die Blumenmädchen erscheinen im eisblauen Einheitslook, denen die Welt der Sinnlichkeit nicht die intelligible ersetzen kann. Parsifal sucht die Synthese. Den Säkularen bietet er ein Christentum, das mit Taufe und Widersetzlichkeit gegenüber der Totalität des Todes im Kampf um die Seelen punktet. Es sind Steine der alten, zusammengebrochenen Kirche, in die das Kreuz eingerammt ist, Grabstätten, dort wächst dem Glauben neue Kraft zu als Gegengift, das gegen den   grässlichen All-Zermalmer gereicht wird. Am Ende setzt der Kirchen- und Weltenretter Kundry zur Bischöfin ein, ob von Rom oder anderswo, bleibt letztlich unerheblich. Die Rettung kommt von der Öffnung des Priesteramtes für Frauen, so der Ansatz von Reitmeier. Jetzt kann die Kirchenkuppel auch in einer säkularen Welt wieder wahrgenommen werden.

Bilder von apokalyptischer Gewalt sind das, die Thomas Dörfler auf die Bühne bringt. Man möchte Jean Pauls Christus in das Eingangsbild stellen, der seine Rede vom zerstörten Weltgebäude herab hält. Tabernakel, die herab schweben, Büroräume, die das postchristliche Abendland symbolisieren, ein Altar, der als Sarkophag dient. Das Bühnenbild spricht tiefe Schichten des Unterbewussten an und ist der Qualität der Inszenierung angemessen. Bühnenbildnerin Anke Drewes taucht tief ein in die klerikale Phantasiewelt. Keine Karikaturen, Stilisierungen, sondern Liebe zum Detail. Ein Parsifal, dessen Wanderungen zwischen den Welten auch im Outfit klug sichtbar gemacht werden.

Das Orchester begeistert. Uwe Sandner hat Unglaubliches für das kleine Orchester geschafft. Eine stimmige Wagnerinterpretation, der jedes Pathos, jede Überhöhung abgeht, die der Feinheit und Differenziertheit der Komposition gerecht wird, ohne dabei die Dramatik zu kurz kommen zu lassen, Musik, die überwältigt. Der Kontakt zu den Protagonisten auf der Bühne ist hoch intensiv.

Ernst Blochs Aufsatz Die Kunst, Schiller zu lesen enthält den Verweis, dass das Tempo sich seit der Zeit der Abfassung geändert hat. Reitmeier nimmt den musikphilosophischen Faden wieder auf und fragt nach der Kunst, Wagner zu singen. Er geht mit Steffen Schantz ein Risiko ein und gewinnt: Natürlich Karfreitag, aber mit einleuchtendem Osterlicht. Steffen Schantz ist ein jugendlicher Naiver, dem man beide Eigenschaften abnimmt, dessen herrliche Klangfärbung ihn auszeichnet und unterscheidbar macht, dem die gewaltigen Herausforderungen nichts anhaben zu können scheinen. Er singt mit einer spielerischen Leichtigkeit und verleiht damit der Rolle Tiefe. Barbara Schneider-Hofstetter eine Kundry, wie Schantz auch spielerisch überzeugend, die sichtlich Spaß hat an ihrer Bekehrung, an der Entdeckung einer unbekannten Gegenwelt, eben eine neugierige Magdalena. Auch sie wagt, fast schon ins Parlando überzugehen. Dass sie die Wahnsinnstonhöhen  und das Forte  beherrscht, zeigt sie eindrücklich. Den meisten Jubel erntet Bayreuth-Sänger Guido Jentjens als Gurnemanz zu Recht. Besser lässt sich die Rolle kaum singen. Er verfügt über eine  Bassstimme von überragender Schönheit. Wieland Satter singt einen diabolischen Klingsor, mit einer verführerisch schönen Bassbaritonlage. Amfortas ist besetzt mit Peteris Eglitis, dem man das Leiden abspürt und abnimmt, eine weit ausgreifende, ansprechende Stimme. Seinen Vater Titurel spielt und singt Alexis Wagner, die Stimme eher differenzierend als ausgreifend. Das Haus bietet seine besten Protagonistinnen für die Blumenmädchen, deren Gesang zu den weiteren, umjubelten Höhepunkten der Inszenierung gehört, die schauspielerischen Leistungen ebenso. Arlette Meißner, Adelheid Fink, Susanne Pemmerl, sonst eher Hauptrollen gewohnt, glänzen ebenso wie Isolde Ehinger, Jena Ann Carpenter und Mareike Braun. Hans-Jörg Bock ist der Erste Gralsritter, mit Schmelz in der Stimme, Peter Floch und Michael McBride als Knappen vervollständigen das Ensemble. Der Chor unter der Leitung von Ulrich Nolte entrückt in himmlische Sphären und erzeugt sakrale Ergriffenheit, ein Konzil alter Männer mit Stimmen voller religiöser Inbrunst und Erhabenheit.

Das Publikum ist auch nach fünfeinhalb Stunden wie elektrisiert. Standing ovations, Bravi ohne Ende, 20 Minuten Applaus. Strahlende Gesichter bei der Premierenfeier und jedem ist klar: Hier und heute wird Wagnergeschichte geschrieben. Nicht nur für Kaiserslautern.

Frank Herkommer