Die Seiltänzer
Puccinis „La Bohème" am Pfalztheater in Kaiserslautern: Gleich großes Kino für Augen und Ohren zum Saison-Auftakt
Von Frank Pommer
Mit Puccinis „La Bohème" präsentierte das Pfalztheater am Samstagabend die erste Opernpremiere der Saison. Die Inszenierung von Thomas Wünsch wurde vom Publikum begeistert gefeiert. Verantwortlich für das Glück der Kaiserslauterer Opernfreunde waren jedoch genau so sehr bestens aufgelegte Sänger und ein Pfalztheaterorchester unter Till Hass, das phasenweise ganz großes Kino für die Ohren bot.
Es sind wohl schlechte Zeiten für Bohèmians. Mit billigem Fusel alleine lässt sich die Welt nicht mehr schöner saufen. Da müssen schon andere, härtere Drogen her. Kokain beispielsweise. Oder Liebe. Die einen ziehen sich eine Straße rein, die anderen treffen das leichte Mädchen von nebenan, das im bürgerlichen Näherinnen-Leben Lucia heißt, sich aber als Mimi so manchen Euro dazu verdient, der ein angenehmeres Leben möglich macht - wenn da bloß nicht dieser lästige Husten wäre...
Die Regie-Ideen von Thomas Wünsch sind mitunter von einer geradezu entwaffnenden Naivität. Wenn er im Programmheft davon spricht, eine „Harz-XII-Bohème" als „Horrorzukunftsvision" zu inszenieren, so meint er das wohl wirklich ernst. Man muss seiner Regie aber gar nicht so viel Bedeutungsschwere auf die Schultern packen. Sie funktioniert ja auch so - bestens. Weil sie den Mut hat, Puccini und sein Libretto beim Wort zu nehmen. Und beeindruckende Bilder findet und erfindet.
Die Bühne von Thomas Dörfler und die Kostüme von Heiko Mönnich verlegen die Handlung weit weniger in eine Horrorzukunft als in eine trostlose, hoffnungsarme Gegenwart. Die Mansarde der vier verhinderten Künstler, deren eigentliche Kunst darin besteht, ein Leben am Rande des Abgrunds zu führen, sieht aus wie eine abgewrackte Fabrik. Mit etwas mehr Kohle wäre daraus vielleicht ein cooles Loft zu machen. So aber werden die vier existenziellen Seiltänzer ohne Netz und doppelten Boden in ihrem Leben am Rande der Gesellschaft von der Backstein-Umgebung nachgerade eingemauert. Ein Ausbruch ist unmöglich. Fast unmöglich, denn wenn die Musiker des Pfalztheaterorchesters unter der Leitung von Till Hass zum ersten Mal für Gänsehaut sorgen, weil sich oben Mimi und Rodolfo liebend in den Armen liegen, dann sprengt Puccinis Musik sprichwörtlich alle Schranken. Die Entgrenzung gelingt, die Mauern fliegen auseinander und es öffnet sich der Blick auf einen abendrötlich-majestätischen Himmel.
Das sind dann so die Stellen bei Puccini, wo die Musikwissenschaft im Algemeinen und Adorno im Besonderen sich mit Grausen abgewendet haben. Thomas Wünsch setzt in Kaiserslautern noch einen drauf, indem er den zweiten Akt als schrilles Weihnachtsspektakel samt Lebkuchen-, Schnee- und Weihnachtsmann inszeniert und den dritten Akt vor der Kellertreppe zu einer Kellerbar spielen lässt, wo sich Punks und schmierige Smokingträger treffen, Huren und Penner. Das ist dann schon auch mal etwas plakativ, wie die riesige weiße Kugel, die zunächst ein Mega-Luftballon des Spielzeugverkäufers Parpignol ist, dann ein bedrohlicher Mond über der Halbweltszenerie - und im vierten Akt als Abrissbirne fungiert, die die Rückwand der Künstlermansarde zerdeppert. Ein gnadenloses Schicksal? Ein sinnloser Tod! Auch der bietet einen - letzten - Ausweg.
Gestorben wird ja quasi immer in der Oper. Hoffnungsloser, sinnloser aber als in der „Bohème" selten. Wünsch erzählt das ganz ohne Perspektive. Es geht nur ums Sterben. Um ein völlig sinnloses, zynisches Sterben, dass das Zusammenleben - wenn man nicht so pathetisch sein will, um Glück zu sagen - zweier Menschen unmöglich macht. So einfach, so lapidar ist das. Am Ende hat es sich ausgehustet für Mimi.
Adelheid Fink leistet in der weiblichen Hauptrolle der Oper ganz Erstaunliches. Sie singt mit großer Leidenschaft, ohne je die Kontrolle über die Stimmführung zu verlieren, und sie spielt diese junge, dem Tod geweihte, dennoch jede Glückssekunde des Lebens mit kindlicher Naivität feiernde Frau mit einer bisweilen atemraubenden Intensität. Und sie hat in Steffen Schantz einen Rodolfo an ihrer Seite, der nicht nur über strahlende Spitzentöne verfügt, sondern viel mehr noch gerade im mezza voce, den „mit halber Stimme" gesungenen Elementen seiner Partie, ganz wunderbar ausgestaltet. Stimmlich überragend schließlich auch der Marcello von Gukhoe Sung. Während der Chor durchaus zu gefallen wusste, konnten die restlichen Solisten, angefangen mit Arlette Meißner (Musetta) über Daniel Böhm (Schaunard) bis Alexis Wagner (Colline) dieses Niveau nicht immer halten.
Oper und Parabel
Es ist kalt, und Bohème ist Mist. Wenn man sterben muss, weil die Armut ein Kellerzuhause hat, wo Menschen sich versuchsweise den Luxus identischen Lebens im Unwahren leisten. Ein dunkler Ort, dem jeglicher Charme eines imaginierten Bohèmelebens abgeht. Jeder schafft sich seine Enklave in der vorzüglichen Inszenierung von Thomas Wünsch am Pfalztheater Kaiserslautern.
Colline, der sich selbst inszenierende Philosoph im Existentialistenlook, Typus André Glücksmann, schwarzer Ledermantel und strähnenverhangene Stirn, der einzige, der sich am Ende distanziert - sezierend und mit analytischem Blick sich dem Tod stellen kann (Rodolfo wird beteiligt „mit sterben“).
Che Guevara-Verschnitt Schaunard, der den prekären Irrsinn nur koksend zu ertragen weiß, der das Lächerliche im Absurden jeder Tragödie körperlich auslebt und mit seinem Lachen die Grenze zwischen Mythos und Philosophie markiert, an der die Musik ihren Ort hat.
Maler Marcello, der rollkragentragende Typ Oberstudienrat, der hin und wieder ausbrechen möchte, ohne die bürgerliche Existenz aufzugeben. Sein Verhältnis zu Musetta zwischen interessengeleiteter Offener Beziehung und in Eifersucht sich geltend machenden Besitzansprüchen, gelebter Widerspruch einer Übergangs- und Verfallszeit.
Musetta, die körperbetonte Grisette, die den Doppelmoralisten Benoît ausnimmt als sei sie die Erinye Proudhons. Eine, die im Hier und Heute ihr Heil sucht.
Rodolfo, der Arrangierte. Anzug tragender Anbiedermann, dessen Poesie die Welt verzaubern, aber nicht verändern will. Bis er der einen (einzig möglichen?) großen Liebe begegnet, die ihn zu einem Schwebenden macht, verletzbar und zeitweilig überfordert und schlussendlich ein erlöster (weil zum Mitleiden fähiger) Erlöser. Für Mimi, die mit erhobenen Armen in die seinen eingebettet mit ihm in die Ewigkeit der Liebe zu entschweben scheint, um dann, die Grenze zwischen Nähe und Absturz markierend, unsicher wie auf dem Schwebebalken auf ihn zuzugehen, um letztlich von ihm in der selben Haltung wie im Liebesduett als Sterbende gehalten zu werden. Personenführung vom Feinsten! Wie auch sonst, wenn die Statisten wie Profis auftreten: Wie der wunderbare gingerbread man, Schneemann und Schneebraut, die Schneeflöckchen oder der Eisbär. Ein Chor mit mediterran-fröhlichen Weihnachtstraumkostümen und beeindruckender Choreographie. Einmal mehr vorzüglich eingestimmt von Ulrich Nolte. Ein Weihnachtsmarkt so ansprechend, dass man am liebsten auf die Bühne steigen möchte, um mit zu tanzen, mit zu staunen, zu trinken und zu feiern. Mit gebührendem Abstand zu Parpignol, der auch eine andere, dunkle Seite zu haben scheint (eine Paraderolle für Shin Nishino).
Wünsch gelingt es, eine Geschichte zu erzählen, die dem Text (und erst Recht der Musik!) gerecht wird und zugleich eine meisterliche Parabel zu entwerfen auf kommende lausige Zeiten, wenn wieder der nackte Boden das Lager der ums Überleben Kämpfenden sein wird, zersprungene Scheiben und tote Fensterhöhlen, die den kalten Wind einer globalisierten Welt ungehindert eindringen lassen. Treppen, die letztlich immer wieder nur eine Richtung kennen: Nach unten. Ein Himmel, der sich beim Auftun bereits als Dämmerung zeigt. Das kalte, seelenlose Kunstlicht einer erbarmungslosen Welt- und Wirtschaftsordnung, mit einem künstlichen Mond als Werkzeug des einstürzenden Himmels, gewaltig wie eine Abrissbirne, die selbst die Mauern der letzten und noch so armseligen Refugien einstürzen lässt.
Wünsch widersteht der Gefahr einer Verkitschung des Bohèmelebens ebenso wie der Verharmlosung von Armut. Und er schafft es dennoch, zu Tränen zu rühren, weil er Anmut und Würde an den entscheidenden Stellen zum Ausdruck bringt. Bei allen Implikationen bleibt La Bohème in dieser Inszenierung die wunderschön erzählte Geschichte einer großen, tragischen Liebe.
Voller Italianità das Dirigat von Till Hass. Ein Klangvergnügen, so empathisch und voller Emphase, rauschend, um dann wieder feinste Differenzierungen zu Gehör zu bringen, so dicht am Geschehen, dass die Töne jeden Widerstand der verkrampften Seele brechen, die Hörer mit nimmt, hinein nimmt und erst wieder zum Schlussjubel entlässt.
Das Bühnenbild von Thomas Dörfler kongenial. Kaum Graffiti, dafür sinistre Verschandelungen an den Wänden, die nicht höher reichen als der Erwartungshorizont der Hoffnungsarmen. Die beiden Treppen zur linken und rechten die Konstante, der Bühnenhintergrund die Variable. Eine intelligente Reduzierung, die die Gleichzeitigkeit von Glanz und Elend, Bohème und Krisis dokumentiert. Dörfler gelingt es einmal mehr, die Botschaft des Regisseurs in Bauten und Bilder umzusetzen und zu verstärken und gleichzeitig seine perfekte Etheologie und seine damit verbundene Ästhetik einzubringen.
Ein eingespieltes Team: Wünsch und Heiko Mönnich. Allein seine Kostüme, bei denen jedes Detail auf einen Gedanken zurückschließen lässt, deren Ästhetik Verspieltheit ohne Hang zur Überstilisierung aufweist, an denen man sich nie satt sehen kann, machen mindestens einen weiteren Besuch zu einem Muss.
Wie die Sänger. Wohl dem Haus, das bis auf eine (vorzügliche) Ausnahme mit dem eigenen Personal eine solche stimmliche und gestalterische Qualität auf die Bühne bringt. Adelheid Fink, eine Mimi, wie sie präsenter, anrührender nicht sein kann. Mit dem Wagnis Realismus. Ein Husten, das dem Hörenden noch weh tut. Todesängste, die sie schütteln, Agonie, die verstört, bei der man schamhaft wegsehen möchte. Nur die Großen können Leiden, Schmutz, Schuld, Hässlichkeit und Elend darstellen. Adelheid Fink ist angekommen in diesem exklusiven Kreis. Auch stimmlich: Ein Sopran, der ungeheuer variantenreich ist, der den Sinn in expressive Töne überträgt, mit der Präzision eines Instrumentes. Gut für jede Bühne der Welt. Steffen Schantz entwickelte sich in den letzten Jahren zum Ausnahmetenor. Schon immer mit einer in den Bann schlagenden Belcanto-Stimme ausgestattet, kommt nun eine ausgereifte Technik hinzu. Und: Schantz lässt (endlich) Gefühle zu, die er sonst eher zurückhaltend auf die Bühne brachte: Erotik, die man spürt, wenn Rodolfo Mimi zum ersten Mal begegnet. Der Schauspieler Schantz hat den Sänger Schantz eingeholt, der großen Karriere steht nichts mehr im Weg. Ein Bariton zum Verlieben Gukhoe Song. Männlich, jeder Ton wie eine unsichtbare Leiter, auf der man in den Himmel steigen möchte. Der Marcello. Bariton Daniel Böhm als Schaunard überzeugt ebenso. Endlich ein Regisseur, der ihm keine Albernheiten zumutet, aber die Kunst der Groteske schon. Die Stimme betörend einschmeichelnd, klangschön und technisch brillant. Alexis Wagner ein beeindruckender Colline. Seine sonore Stimme äußerst variabel. Gleich stark in den Höhen wie in den Tiefen. Idealbesetzung für Musetta: Arlette Meißner brilliert, betört und glänzt, hübsch, lasziv und verführerisch. Die ihre Partien meistert, mit ihrem glockenklaren Sopran, der hörbar an Weite gewonnen hat. Frank Gershofer ein herrlicher Hausmann und Nabob, in der Rolle des Benoît. Ein Vergnügen! In den Kleinrollen Hubertus Bohrer als Sergeant und Roland Goroll als Zöllner.
Das Publikum dieses Weihnachtsmärchen der anderen Art verzückt und begeistert. Man konnte sich nicht erinnern, dass jemals ein solcher Zwischenapplaus zur Pause zu hören war. Und am Schluss sechzehn Minuten Dauerklatschen, mit sonst eher seltenen Bravorufen auch für das Regieteam. Die Ära Reitmeier wird zum Mythos zu Amtszeiten.