Das Leben ist eine Baustelle
Pfalztheater-Intendant Johannes Reitmeier inszeniert in Kaiserslautern „Hamlet"
Von Fabian R. Lovisa
20 Jahre hat es gedauert, bis Dänenprinz Hamlet nun wieder in Kaiserslautern aufgetaucht ist. Am Samstagabend hatte der Shakespeare-Klassiker am Pfalztheater Premiere und war Chefsache: Intendant Johannes Reitmeier inszenierte den keineswegs einfachen Stoff und wurde seiner Herr. In dreieinhalb Stunden entfaltete er dabei eines der großen Menschheitsdramen.
Im Grunde scheint die Geschichte doch so eindeutig: Ein machtbesessener Intrigant ermordet seinen Bruder, um auf den Königsthron zu gelangen. Zu allem Überfluss heiratet er auch noch die verwitwete Königin. Deren Sohn, Prinz Hamlet, kommt damit verständlicherweise nicht zurecht und sinnt auf Vergeltung. Diverse Nebenstränge, die sich meist aus dem intriganten Milieu des Hofes ergeben, treten dazu.
Doch so einfach die Grundkonstellation klingt, so vieldeutig entpuppt sie sich im Verlauf einer Annäherung. Shakespeares moderner Dramatikerkollege T. S. Elliot sprach sogar davon, „dass wir etwas verstehen müssten, was Shakespeare selber nicht verstand" und bezeichnete das Stück als „künstlerischen Fehlschlag". Ganze Bücher wurden geschrieben über die Psyche des betrogenen Dänenprinzen, die Auslegungen seiner Figur auf der Theaterbühne sind verschiedener kaum denkbar. Ein Klassiker darunter sicherlich: Hamlet als melancholischer Grübler. Doch sucht Regisseur Reitmeier seinen eigenen Weg. Und der beginnt bei der Besetzung seiner Hauptfigur.
Mit Daniel Mutlu hat er einen jungen Schauspieler mit dem Hamlet betraut, einen blonden, sympathischen Schlacks, der erst 2008 einen Kölner Theaternachwuchspreis erhielt und seit der Saison 2009/2010 am Pfälzer Dreispartenhaus arbeitet. Als trotteliger Polizist in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame" und als linkischer Schauspieler-Darsteller in Theresia Walsers „Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm" war er in dieser Spielzeit bislang zu erleben - nun also eine der ganz großen Rollen. Ohne übertriebenen Respekt nähert sich der 27-Jährige seiner Figur. Zunächst staunt sich sein Hamlet mit aufgerissenen Augen und offenem Mund durch die Welt des dänischen Hofes. Mit Herzblut gibt er in der Folge den vermeintlich Durchgeknallten, übt den „Sein oder nicht sein"-Monolog schon mal mit roter Clownsnase und Sturmfrisur - eine Mischung aus Kleinem Prinzen und Kobold in einem Käfig voller Narren. Zweifellos fühlt man mit ihm, wird er zum Sympathieträger, auch - oder gerade weil? - er die melancholische Seite seiner Figur eher vernachlässigt.
Ganz eigene Typen zeigt Reitmeier auch mit dem überwiegenden „Rest" seines „Personals": Henning Kohnes König ist ein Widerling mit Wampe, Antje Weisers Königin eine eher gedankenlose Gespielin, und Marion Fuhs gibt Hamlets Angebetete Ophelia als linkisches Liebchen - was zweifellos ein hübsches Paar ergeben hätte, wäre Shakespeare kein erwiesener Freund düsterer Dramen und wahrer Leichenberge gewesen.
Doch bevor am Ende fast alle sterbend am Boden zucken und die Norweger das Kommando am dänischen Hof übernehmen, entfaltet sich auf der von Thomas Dörfler eingerichteten Bühne ein meist temporeiches Treiben mit etlichen hintersinnigen Ideen. Diese beginnen bei Details wie einem Ikea-Katalog, den Ophelia lesen muss und endet noch lange nicht bei der Kulisse, die den jahrelang vor sich hin rottenden Hotelrohbau auf dem Kaiserslauterer Stiftsplatz aufnimmt. Dass das Leben eine Baustelle ist, deuten neben dem Bühnenbild auch Kostüme und Ausstattung (Anke Drewes) an, etwa wenn Soldaten als Bauarbeiter auftauchen oder die Clique des Laertes Baugerüstteile als Waffen in den Händen hält. Funktioniert diese Übertragung über weite Strecken, so wirken die wenigen historischen Anleihen gerade bei den Kostümen eher unentschlossen beziehungsweise unmotiviert.
Dass über die dreieinhalbstündige Spieldauer (mit einer Pause) nur im ersten Teil wenige Längen auftauchen, ist der intensiven Personenführung Reitmeiers zu verdanken. Bis in die Nebenrollen hinein entwickelt er mit großem Nachdruck seine Figuren, arbeitet umsichtig mit der oftmals komplexen Sprache der Schlegel-Übersetzung und entwickelt Nebenstränge, ohne den Blick fürs Ganze zu verlieren. So vermisst man auch die Reitmeier-typische Opulenz, die etwa seinen „Faust" geprägt hatte, nicht wirklich.
Eine Klassiker-Inszenierung also, die über ihre Modernisierung zwar sicherlich wieder einmal polarisierend wirken mag, aber ganz klar ihre Stärken hat. So hat ein über 400 Jahre altes Stück sicherlich auch jüngeren Zeitgenossen noch ziemlich viel zu sagen.
Saarbrücker Zeitung vom 28. Januar 2011
Ein Feuerkopf auf der Staats-Baustelle
von Cathrin Elss-Seringhaus
Aufführungsvergleich: Nach Saarbrücken zeigt jetzt auch Kaiserslautern einen Intendanten-"Hamlet"
Nicht nur in Saarbrücken, auch in Kaiserslautern hat die Intendanz "Hamlet" in dieser Saison zur Chefsache erklärt. Während Dagmar Schlingmann am Staatstheater mit dem komplexen Shakespeare-Stoff nicht auf gewohnter künstlerischer Höhe landete, gelingt ihrem Kollegen Johannes Reitmeier am Pfalztheater Überdurchschnittliches.
Saarbrücken/Kaiserslautern. Es existiert eine ungeschriebene Rangliste der regionalen Ensemble-Bühnen: Mannheim, Saarbrücken, Kaiserslautern, Luxemburg (Nationaltheater), Trier. In der eigentlichen Großregion behauptet das hiesige Staatstheater seit langem die Platzhirsch-Position. Umso überraschender, wenn sich im unmittelbaren Aufführungsvergleich die Perspektive verschiebt, vor allem, wenn es um Intendanten-Produktionen geht. Bis vor kurzem stand im Saarländischen Staatstheater (SST) "Hamlet" auf dem Spielplan, dieser Tage kam Shakespeares Mammut-Tragödie im Kaiserslauterer Pfalztheater heraus. In einer über dreistündigen Strich-Fassung, die eine knappe Stunde länger ist als Schlingmanns Version. Zwar gerät Intendant Johannes Reitmeier Manches zu ausladend. Doch man lernt in Kaiserslautern: Dieser komplexe Shakespeare-Stoff - Staats-Affäre, Rache-Melodram, Psycho-Krimi, Liebestragödie - braucht seine Zuhör-Zeit. Nur dann entfaltet sich seine Vielschichtigkeit als Faszinosum und nicht als Verwirr-Moment.
In Saarbrücken wurde Letzteres durch den Einsatz von Puppen-Doubles und die Besetzung der Titelrolle mit einer Frau weiter verstärkt. Schlingmann komponierte große Bilder, in denen sich dann jedoch klare Figuren-Umrisse verloren. Gemessen an ihrem Innovations-Ehrgeiz nimmt sich Reitmeiers Herangehensweise gefährlich konventionell aus. Der Kaiserslauterer Theaterchef schäumt Shakespeare nicht künstlich auf. Er sucht ruhige Gewässer. Dabei "aktualisiert" er durchaus, produziert mit seinem Bühnenbild (Thomas Dörfler) allerdings Fragezeichen. Schloss Helsingör begegnet uns - optisch durchaus reizvoll - als bühnenhohes Baustellen-Gerüst. Hier bastelt ein Usurpator mit Baulöwen-Gehabe am "neuen Dänemark". Seine Hofgesellschaft steckt in halbseidenen Upper-Class-Klamotten und fährt mit Riesenschlitten auf die Bühne - ein recht abgenutzter Show-Effekt. Generell jedoch hält sich Reitmeiers Inszenierungsstil an alte Tugenden: keine Mätzchen, scharf umrissene Charaktere, eindeutige Konflikt-Linien, vor allem aber ein tragender Hauptdarsteller. Der heißt Daniel Mutlu und ist ein Glücksfall für die Inszenierung. Er steuert den Dänenprinzen, dessen Mutter mit dem Bruder und Mörder des Vaters im Ehebett liegt, gänzlich unbekümmert am Klischee des Melancholikers und Zauderers vorbei. Zeigt ihn als sympathisch durchgeknallten, unberechenbaren Feuerkopf mit typisch spätpubertären Zickigkeiten. Dieser Hamlet leidet nicht am Außenseitertum, er gefällt sich als Snob, der sich schon mal eine Clownsnase aufsetzt und bei offiziellen Anlässen die Unterhose runterlässt. Mutlu greift sich die Theater-Ikone Hamlet so beherzt und so gänzlich ohne Ehrfurcht, dass es eine Freude ist.
Ähnlich zupackend agiert die gesamte Kaiserslauterer Truppe. Claudius (Henning Kohne) und Gertrud (Antje Weiser) sind keine Sex-Monster, sondern ein Durchschnitts-Paar im Flitterwochen-Furor, das die Hände nicht voneinander lassen kann. In Saarbrücken herrschte Fadheit. Auch fischt Reitmeier für Rosenkranz und Güldenstern (Hannelore Bähr, Rainer Furch) nicht im Surreal-Grotesken, sondern er zeigt uns die Narren unseres heutigen Alltags: käufliche Angestellte mit Geschäftsreisenden-Köfferchen, eine komisch-gefährliche Mischung aus Dummheit und Skrupellosigkeit. Und Ophelia (Marion Fuhs) ist schlicht das verstörte Hühnchen, das wir immer schon kannten. So entwickelt sich ein stimmiges, unaufgeregtes Miteinander. Der Zuschauer genießt den Verzicht auf Exzentrik. Alles in allem ist in Kaiserslautern ein vielleicht unspektakulärer "Hamlet" zu besichtigen, dafür ein grundsolider.
Pressespiegel Spielzeit 2010/2011
INSIDER vom 23. Januar 2011
Ein Krimi, der hält, was er verspricht
Hamlet-Inszenierung am Pfalztheater - Polit-Thriller fesselt Publikum
Großen Beifall und Lob gab es für "Hamlet", der gestern Abend Premiere auf der Bühne im Pfalztheater feierte. Regisseur Johannes Reitmeier und sein Schauspielensemble haben es geschafft, das Publikum drei Stunden lang zu fesseln. Keine leichte Aufgabe, denn "Hamlet" kennt jeder, hat jeder schon mindestens einmal gesehen, und jeder hat so seine ganz eigenen Erwartungen an das Stück.
Urs Häberli, stellvertretender Intendant des Pfalztheaters sprach Johannes Reitmeier ein ganz großes Kompliment aus. "Ich war von diesem Abend ausgesprochen persönlich berührt. Mein Lob und meine Achtung gehen auch an das gesamte Ensemble. Ich betrachte dies als eine Ensembleleistung und als diese ist Ihre Leistung sensationell!" Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so eine Intensität sei im Zuschauerraum gewesen. "Das kann nur geschehen, wenn eine solche Leistung auf die Bühne gebracht wird!"
Und diese Leistung wird auf die Bühne gebracht. Johannes Reitmeier hat diesbezüglich im Vorfeld nicht zu viel versprochen."Für mich ist das Zentrale, dass ich den Zuschauer in einen literarischen Thriller mitnehmen will - und das ist „Hamlet" für mich, ein atemloses Stück voller irritierender Wendungen, das die ganze Zeit unglaublich pendelt zwischen Sein und Schein", sagt er über seine 19. Regiearbeit am Pfalztheater. Und er bringt das Stück nicht nur spannend auf die Bühne, auch modern ist seine Inszenierung. Es ist kein verstaubter "Hamlet", den das Publikum zu sehen bekommt. Die Familiengeschichte spielt in der Gegenwart, ein Politthriller, wie er heute eben auch vorkommen kann.
So ist auch das Bühnenbild von heute. Zu Beginn der Geschichte stürzt alles ein und "Hamlet" trifft nun auf eine Baustelle, die mit blinkenden Absperrbarken und einem Baugerüst nebst Bauarbeitern mit Schubkarren auch so aussieht. Nun mag der ein oder andere diese Modernität wieder kritisieren. "Hamlet ist immer etwas, was man zur Diskussion stellt", sagte Johannes Reitmeier dazu gestern Abend auf der Premierenfeier. "Jede Inszenierung ist ein Angebot. Man sucht sich das aus, was einem gefällt." Und Recht hat er. Jeder kann etwas finden: die Sprache, den Text, die schauspielerische Leistung, die Kostüme, das Bühnenbild... alles, was "Hamlet" ausmacht, ist da. Man darf sich aus dem großartigen Angebot herausnehmen, was einem gefällt. Es ist genug "Nehmenswertes" da!
Und eines ist sicher: Auf dieses moderne Angebot werden auch junge Menschen zugreifen. Das Pfalztheater ist sowieso schon ein Theater, das einen geringeren Altersdurchschnitt hat als andere Theater. Und dieser "Hamlet" wird ganz sicher das Pfalztheater wieder ein Stückchen "jünger" machen.
"Wenn es gelingen könnte, an diesem Abend niemanden zu langweilen, sondern über die gesamte Aufführungsdauer wirklich in den Bann dieser sehr gut gemachten Story zu ziehen, dann haben wir unser Klassenziel erreicht", wünschte sich Johannes Reitmeier im Vorfeld der Aufführung.
Setzen, Eins! Klassenziel erreicht!
Petra Rödler