Saarbrücker Zeitung vom 28. Januar 2011
Ein Feuerkopf auf der Staats-Baustelle
von Cathrin Elss-Seringhaus
Aufführungsvergleich: Nach Saarbrücken zeigt jetzt auch Kaiserslautern einen Intendanten-"Hamlet"
Nicht nur in Saarbrücken, auch in Kaiserslautern hat die Intendanz "Hamlet" in dieser Saison zur Chefsache erklärt. Während Dagmar Schlingmann am Staatstheater mit dem komplexen Shakespeare-Stoff nicht auf gewohnter künstlerischer Höhe landete, gelingt ihrem Kollegen Johannes Reitmeier am Pfalztheater Überdurchschnittliches.
Saarbrücken/Kaiserslautern. Es existiert eine ungeschriebene Rangliste der regionalen Ensemble-Bühnen: Mannheim, Saarbrücken, Kaiserslautern, Luxemburg (Nationaltheater), Trier. In der eigentlichen Großregion behauptet das hiesige Staatstheater seit langem die Platzhirsch-Position. Umso überraschender, wenn sich im unmittelbaren Aufführungsvergleich die Perspektive verschiebt, vor allem, wenn es um Intendanten-Produktionen geht. Bis vor kurzem stand im Saarländischen Staatstheater (SST) "Hamlet" auf dem Spielplan, dieser Tage kam Shakespeares Mammut-Tragödie im Kaiserslauterer Pfalztheater heraus. In einer über dreistündigen Strich-Fassung, die eine knappe Stunde länger ist als Schlingmanns Version. Zwar gerät Intendant Johannes Reitmeier Manches zu ausladend. Doch man lernt in Kaiserslautern: Dieser komplexe Shakespeare-Stoff - Staats-Affäre, Rache-Melodram, Psycho-Krimi, Liebestragödie - braucht seine Zuhör-Zeit. Nur dann entfaltet sich seine Vielschichtigkeit als Faszinosum und nicht als Verwirr-Moment.
In Saarbrücken wurde Letzteres durch den Einsatz von Puppen-Doubles und die Besetzung der Titelrolle mit einer Frau weiter verstärkt. Schlingmann komponierte große Bilder, in denen sich dann jedoch klare Figuren-Umrisse verloren. Gemessen an ihrem Innovations-Ehrgeiz nimmt sich Reitmeiers Herangehensweise gefährlich konventionell aus. Der Kaiserslauterer Theaterchef schäumt Shakespeare nicht künstlich auf. Er sucht ruhige Gewässer. Dabei "aktualisiert" er durchaus, produziert mit seinem Bühnenbild (Thomas Dörfler) allerdings Fragezeichen. Schloss Helsingör begegnet uns - optisch durchaus reizvoll - als bühnenhohes Baustellen-Gerüst. Hier bastelt ein Usurpator mit Baulöwen-Gehabe am "neuen Dänemark". Seine Hofgesellschaft steckt in halbseidenen Upper-Class-Klamotten und fährt mit Riesenschlitten auf die Bühne - ein recht abgenutzter Show-Effekt. Generell jedoch hält sich Reitmeiers Inszenierungsstil an alte Tugenden: keine Mätzchen, scharf umrissene Charaktere, eindeutige Konflikt-Linien, vor allem aber ein tragender Hauptdarsteller. Der heißt Daniel Mutlu und ist ein Glücksfall für die Inszenierung. Er steuert den Dänenprinzen, dessen Mutter mit dem Bruder und Mörder des Vaters im Ehebett liegt, gänzlich unbekümmert am Klischee des Melancholikers und Zauderers vorbei. Zeigt ihn als sympathisch durchgeknallten, unberechenbaren Feuerkopf mit typisch spätpubertären Zickigkeiten. Dieser Hamlet leidet nicht am Außenseitertum, er gefällt sich als Snob, der sich schon mal eine Clownsnase aufsetzt und bei offiziellen Anlässen die Unterhose runterlässt. Mutlu greift sich die Theater-Ikone Hamlet so beherzt und so gänzlich ohne Ehrfurcht, dass es eine Freude ist.
Ähnlich zupackend agiert die gesamte Kaiserslauterer Truppe. Claudius (Henning Kohne) und Gertrud (Antje Weiser) sind keine Sex-Monster, sondern ein Durchschnitts-Paar im Flitterwochen-Furor, das die Hände nicht voneinander lassen kann. In Saarbrücken herrschte Fadheit. Auch fischt Reitmeier für Rosenkranz und Güldenstern (Hannelore Bähr, Rainer Furch) nicht im Surreal-Grotesken, sondern er zeigt uns die Narren unseres heutigen Alltags: käufliche Angestellte mit Geschäftsreisenden-Köfferchen, eine komisch-gefährliche Mischung aus Dummheit und Skrupellosigkeit. Und Ophelia (Marion Fuhs) ist schlicht das verstörte Hühnchen, das wir immer schon kannten. So entwickelt sich ein stimmiges, unaufgeregtes Miteinander. Der Zuschauer genießt den Verzicht auf Exzentrik. Alles in allem ist in Kaiserslautern ein vielleicht unspektakulärer "Hamlet" zu besichtigen, dafür ein grundsolider.