Zärtliche Innigkeit
Man muss die Geschichten der beiden Komponisten Tschaikowski und Sibelius nicht kennen, um sie zu erahnen nach diesem Ballettabend im ausverkauften Großen Haus. Um die Tragik zu spüren, die sie umweht, jene Kraft, die zerstört und zugleich produktiv wirkt wie keine andere. Stefano Giannetti lässt die Geschichten sich doppelt erzählen, in Ton und Tanz; er bringt große Gefühle verstörend schön zum Ausdruck, setzt Musik und Tanz in ein mäeutisches Verhältnis, in dem sie sich gegenseitig interpretieren und verstärken. Bewegung und Musik verschmelzen zur Einheit, ohne zum bloßen Imitieren abzugleiten. Beide Male dient eine Fünfte Symphonie zur Grundlage der choreografischen Einschreibungen. Peter Tschaikowskis Fünfte, die eine ungeheure Bandbreite an Gefühlen zu Musik verdichtet. Denen Giannetti tänzerischen Ausdruck verleiht, um sowohl die Liebesstürme des Komponisten zu visiualisieren als auch die der Musik innewohnenden großen Gefühle miterlebbar werden zu lassen.
Eine zärtliche Innigkeit ohne Hauch von Peinlichkeit rührt jeden an, wenn Chris Kobusch und Salvatore Nicolosi das Bergende in der Liebe suchend den Kopf auf Schultern und Schoß legen, ihre Körper aus der Vereinzelung heraustreten und zur Zweisamkeit verschmelzen. Beide Tänzer verfügen über Charisma, Ausstrahlung und Ausdruckskraft, man sieht Tschaikowski – der großartige und hochtalentierte Kobusch, mit einer unwiderstehlichen Suggestivkraft - und seinen Geliebten Iosif Kotek – Nicolosi, der über die Kunst des Einfühlungsvermögens und wie die gesamte Company über eine profunde Technik verfügt - vor sich und spürt die Energie, die der Komponist aus dieser tragischen Beziehung gezogen hat. Nur dass beide unendlich schöner sind als die realen Protagonisten damals. Die virile, dabei unerbittliche Gegenwelt stellt ihre Ansprüche, wenn Daniel Abbruzzese, Riccardo Marchiori und Kei Tanaka bedrängend nahe kommen, wenn ihre Sprungkraft und ihre Konformität, die sich in der durchgehenden Synchronität aller Tänzerinnen und Tänzer hier im Besonderen Ausdruck verschafft, so dass der Zuschauer nicht mehr an die Choleravariante, sondern an den erzwungenen Selbstmord glauben möchte. Was für eine Primadonna: Welche Innigkeit, Anmut, vollendete Körpersprache Elonora Fabrizi ausstrahlt! In den Frauenrollen greift Giannetti noch einmal verstärkt auf das Repertoire des klassischen Balletts zurück. Wobei die Kreativität des Italieners sich in nie gesehenen Bewegungen und Figuren ausdrückt. Der Atem stockt, wenn der gescheiterte Versuch zur Andeutung gebracht wird, mit dem Tschaikowski die Ehe vollziehen wollte. Tragik aller Männerliebenden, die so gerne gesellschaftskonform auftreten möchten. Letizia Cirri, Laure Courau, Gabriella Limatola und Flavia Samper ergänzen die Frauenwelt im Leben des Komponisten, Mutter, seine Mäzenin von Meck, seine Gouvernante Fanny Durbach, die ihn verschmähende Sängerin Artôt, die vor ihm wusste, dass es für bisexuell nicht reichte. Es ist nicht wichtig in dieser Choreografie, die zuzuordnenden Personen zu kennen. Alle stehen für das Weibliche, dem die vier elegant, technisch auf hohem Niveau, anmutig und selbstbewusst Ausdruck verleihen.
Die Geschichte von Jean Sibelius macht Giannetti zu einer Hommage an die Liebesstürme eines Mannes, dessen Produktivität versiegt in dem Augenblick, als er domestiziert wird. Als Alkoholabusus und Ehebruch wie das Komponieren eingestellt werden. Wieder braucht die Botschaft kein Hintergrundwissen. Die Musik gleichförmiger, fließender, nicht mit den großen emotionalen Ausschlägen, dabei wunderbar differenziert und fast schon heiter. Wie schon bei Tschaikowski einfühlsam, in perfekter Synchronität zu dem Geschehen auf der Bühne, sich selbst interpretierend, unter der versierten und engagierten Leitung von GMD Uwe Sandner vom Orchester des Pfalztheaters intoniert. Wieder die Fünfte. Das Bühnenbild komplett anders. Thomas Dörfler arbeitet mit Lichtinstallationen, vorzüglich umgesetzt von Manfred Wilkens. Mit lamellenartigen Seitenausgängen. Mit Abstraktionen, deren Raute am Hintergrund an das ewig Weibliche gemahnt, das den in Finnland geborenen Komponisten so anzieht. Die Kostüme, von Stefano Giannetti, ganz in Weiß gehalten. Im ersten Bild herrschen konkrete Fotografien vor, der Ballsaal des Winterpalastes in St. Petersburg, die Stadt an der Newa, das Anwesen in Moskau. Fünf weiße Bögen, ansonsten dient der Raum alleine den tänzerischen Darbietungen. Rot und schwarz die Grundfarben der Kostüme, wobei sich Frauenrot und Männerrot unterscheiden. Sobir Utabaev gibt Sibelius exzellent Ausdruck. Enorm seine Hebekraft, atemberaubend schön, wenn er die wunderbare Primadonna Gabriella Limatola zu vollendeter Inkarnation unterschiedlicher Gefühle erhebt. Wieder überzeugen die anderen Protagonisten, nur Kobusch tritt im zweiten Teil nicht mehr auf.
Das Publikum genießt einen Ballettabend, der nachhallt. Großer, nicht enden wollender Applaus. In den Nachgesprächen ist Stolz zu spüren, auf Orchester, GMD, Company und Giannetti. Das Pfalztheater ist wieder eine Adresse für die hohe Kunst des Balletts.